Mein Kopf

Warum der Titel „mein Kopf“? Weil das, was ich thematisieren werde (insbesondere den Unterschied zwischen anderen und mir) irgendetwas mit dem, wie mein Kopf funktioniert, zutun haben muss.

Ich kann allgemein sagen: Das Gefühl von Gleichheit ist mir fast so fremd wie die Rückseite des Mondes.

 

Schon mein ganzes Leben lang lebt in mir das Gefühl des Andersseins. Ganz früher, als ich noch nicht so sehr über die Außenwelt nachdachte, weil ich noch sehr in meiner Innenwelt lebte, dachte ich nicht intensiv darüber nach, aber auch zu jener Zeit schon, wenn ein fremdes Gesicht in meiner Umgebung auftrat, fühlte ich mich abgestoßen und sehnte mich nach Distanz. „Irgendwie sind die anderen sonderbar/seltsam“ – das habe ich oft gedacht und denke es heute beinahe täglich.

 

Aber was genau macht dieses Anderssein aus?

 

Als Jugendliche habe ich das so ausgedrückt: „Ich fühle mich immer unverstanden.“ Aber warum, das konnte ich nie richtig benennen. Wahrscheinlich denkt und fühlt das jeder Jugendliche auf diesem Planeten, aber ich dachte und fühlte es bereits davor und ich denke und fühle es seitdem fast ständig: Ich bin anders/andere verstehen mich nicht.

 

Das Leben auf diesem Planeten wurde für mich unerträglich. Ich hatte keine Ahnung warum. Mit 15 Jahren begann ich, mich aktiv für das Lesen zu interessieren: Ich las alles Mögliche, insbesondere Themen zur Psychologie. Ich las auch Goethe, Schiller, Nietzsche. Einer meiner Klassenlehrer schenkte mir einige Bücher zum Thema Entwicklungspsychologie. Ich habe das Zeug gelesen und stieß irgendwann, irgendwo auf den Begriff „Autismus“. Es war immer nur von Kanner-Autismus die Rede, nie vom Asperger-Syndrom – das habe ich einige Jahre später erst entdeckt. Aber das, was da über Kanner-Autismus stand, war dem, was ich wahrnahm und fühlte und dachte, weitaus näher als jede Beschreibung über Neurotypische.

 

Ich weiß noch, dass ich dachte: „Irgendwie bin ich autistisch aber Kanner-Autist bin ich nicht.“ Ich kam immer und immer wieder auf den Begriff Autismus zurück, bis ich dann eines Tages im Internet auf den Begriff „Asperger-Syndrom“ stieß und bei der Beschreibung dachte: „Das bin ich.“ Und alle Tests, die ich dann machte (und ich habe alle mir zur Verfügung stehenden Tests zu dem Thema im Internet gemacht – ich liebe alle möglichen Arten von Tests, ich kann nicht genug davon bekommen), sagten: Sie haben höchstwahrscheinlich das Asperger-Syndrom. Aber dann verdrängte ich das wieder ein paar Jahre, bis ich beschloss, das doch fachmännisch/fachfrauisch abklären zu lassen.

 

Die Zuordnung zu dieser Spezies (AS) hat bei mir einiges klar gemacht, was das Gefühl des Andersseins anging – so wird es jedem von denen gehen, die die Diagnose haben.

Der permanente Eindruck, dass ich nicht dazu gehöre, dass ich mich noch so sehr anstrengen kann, aber dennoch einsam weiterwandere, war „real“ und „richtig“ geworden. Vorher hatte ich mich immer wieder abgewertet (und mache es auch heute noch hin und wieder) und mir gesagt: „Ich bin krank/verrückt/unnormal. Mit mir stimmt etwas nicht.“

 

Mit der Rückendeckung der Diagnose, kann ich nun klarer die Unterschiede benennen. Für mich ist das Asperger-Syndrom eine ganz andere Art der Wahrnehmung. Das ist nicht nur irgendeine Kategorie wie introvertiert und extravertiert (wobei da auch schon große Unterschiede bestehen), sondern es ist eine vollkommen andere Seinsform.

Das starke Unwohlsein, welches bei Small-Talk auftritt, ist eines der deutlichen Hinweise: Ich kann mit jedem Menschen dieser Welt ein gutes, flüssiges Gespräch führen, wenn es z.B. um das Thema Arbeit geht. Beispiele:

 

Mein Chef kommt zu mir und fragt mich Dinge bezüglich eines aktuellen Auftrages: Es ist für mich überhaupt kein Problem, ihm auf jede dahingehende Frage zu antworten. Ich rechne ihm vor, wie schnell wir sind, wie viel wir haben, was wir noch brauchen etc. Ich fühle mich sicher. Weicht er aber nur einer Millimeter von dieser Ebene ab und bringt etwas Ironisches, Lustiges, gar Persönliches ein, bin ich wie verstockt. Entweder greift dann irgendeine Sprachschablone meinerseits, oder es kann peinlich werden. (Zum Glück liegt die Wahrscheinlichkeit, dass mein Chef so etwas tut unter 1 Prozent).

 

Bleiben wir bei der Arbeit: Eine Kollegin und ich sprechen über einen Auftrag, der getätigt werden muss. Kein Problem. Ich fühle mich sicher. Und dann kommen manchmal solche Sachen: „Sag mal, was ist denn wieder mit xy los?“; „Und, was machst Du heute noch so?“; „Heute vor einer Woche hat meine Tochter geheiratet.“ Ach, Du meine Güte! Mein Kopf läuft von jetzt auf gleich auf Höchstleistung: Was sage ich jetzt? Wie sage ich es? Muss ich sie jetzt dabei anschauen? Wie komme ich nun auf das Thema Arbeit zurück? Usw.

 

Das lässt sich auf zig Situationen übertragen. Was ich damit ausdrücken will: Es ist sehr, sehr anstrengend für mich, mit anderen Menschen zu smalltalken, von einer Ebene auf die andere zu switchen. Ich arbeite doch mit denen, ich bin nicht mit ihnen befreundet. Ich sag’s mal ganz offen: Es gibt Kolleginnen, die erzählen mir manchmal etwas, von dem ich überhaupt nichts verstehe – nicht, dass ich den Kontext nicht verstehe, ich verstehe noch nicht einmal, worum es geht oder welches Thema gerade angesprochen wird. Das sind Extremfälle, aber es gibt Menschen, die erzählen etwas und machen dabei so viele Anspielungen (die man sich selbst zusammendichten muss), dass ich genauso wenig verstehe wie ich verstünde, wenn jemand japanisch mit mir spräche (Anmerkung: Ich kann kein japanisch). Die Mischung aus Kopfnicken und „hm, ja“ hat mich schon vor manch einer peinlichen Situation gerettet. Zum Glück gibt es auch andere Menschen. Wenn irgendwo ein Sprichwort oder eine Redewendung ausgesprochen wird, die mir nicht bekannt ist, kann ich diese Menschen fragen: „Was bedeutet das?“, und dann erklären sie es mir. Wenn andere wieder kontextlos reden, kann ich fragen: „Worum geht es gerade?“, und dann erklären sie es mir.

 

Ich weiß nicht, ob auch folgendes zum Thema AS gehört, aber da es mich betrifft und ich AS bin, hat es auch irgendetwas damit zu tun:

 

Mein Kopf beschäftigt sich mit Dingen, mit denen sich Köpfe anderer nicht zu beschäftigen scheinen. Ich habe ein aktuelles Beispiel von heute Morgen:

 

Andere sprachen in meiner Nähe über das Thema „Regen“, dabei war ich gerade gedanklich bei dem Thema „Vektorrechnung“ (genauer: Ebenengleichungen). Ich hatte mich gestern Abend damit beschäftigt und es hatte mich etwas geärgert, dass ich das schon mal besser konnte. Solche Fälle gibt es zuhauf: Andere erzählen etwas zu irgendeinem Small-Talk-Thema und ich bin mit irgendwelchen anderen Fragen beschäftigt. Ich kann das nur ansatzweise wiedergeben, da sich mein Kopf am Tag mit so vielen Dingen beschäftigt, dass es selbst mir schwer fällt, eine genaue Auflistung zu machen. Ich denke zum Beispiel über das nach:

 

-     Wie der Fachbegriff für irgendetwas lautet. Z.B. Thorax oder Epidermis, Epilimnion (jetzt gerade denke ich an „Satisfaktion“, weil ich es vor kurzem gehört habe), Anapher, Bolus-Tod, Polynomdivision usw.

 

-      Sehr, sehr oft formuliere ich Sätze in meinem Kopf; übernehme Sätze von anderen; gehe durch, wie ich etwas am besten erklären kann; was ich zu sagen haben; wie ich es zu sagen habe (Betonung). Das habe ich für mich „Sprachschablonen-System“ getauft. Oder ich sage dazu: „Das ist versprachlicht“ oder „Das ist noch nicht versprachlicht.“

 

-       Wie ich es schaffe, das, was ich z.B. im nächsten Monat alles erledigen will, unterzubringen. Solche Sachen macht mein Kopf fast für sich alleine, da muss ich so gut wie nicht mehr aktiv eingreifen: Das ist eine Art Strukturbildung. Das mache ich ständig. Man kann sich das wie ein Puzzle vorstellen, welches immer wieder neue Puzzleteile dazu bekommt und welche ich dann immer wieder neu einfüge, je nachdem, wie es passt – und dann nehme ich Optimierungen vor. Dabei besteht auch die Aufgabe darin, mögliche Konflikte zu erkennen und dann auszuhebeln.

 

-    Um welches Problem es sich handelt: Gibt es irgendetwas in etwas Geschriebenem oder Gesagtem, was „nicht passt“, also wo irgendein Fehler liegt oder irgendeine versteckte Botschaft, denke ich halbbewusst darüber nach, bis ich die Lösung habe. Dabei arbeite ich fast nur mit Assoziationen.

 

-      Assoziationen: Was ich wo, wie, wann erlebt habe; was wer, wie, wann, wo gesagt hat. Ich habe ein „Bild-Gehirn“, ich kann zu jeder Unterredung und zu jedem Ort, an dem ich mal war, zurückgehen, wenn ich davon ein Bild abgespeichert habe (ich meine nicht damit, dass ich dann noch alles exakt weiß, wie es gesagt wurde). Nenn mir irgendeinen Ort, an dem ich mal war (und den ich nicht aufgrund möglicher schlimmer Ereignisse verdrängt habe) und ich kann mich sofort an diesen Ort beamen.

 

-    Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit der Transaktionsanalyse und mit PCM (Process Communication Model von Taibi Kahler). Schlicht gesagt ist das ein (psychologisches) Modell, welches sich damit beschäftigt, zu erklären, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten, welche Motive dahinter stehen usw. Welche Antreiber sie haben und wie sie sich im Stress verhalten. Welche Beschlüsse sie in ihrer Kindheit gefasst haben, welchen „unbewussten Lebensplan“ (Skript) sie gewählt/für sich formuliert haben und was das auf Dauer bedeutet. Wie ihre Eltern oder nahe Bezugspersonen mit ihnen als Kind umgegangen sind und was sie nun weiter leben.

Darüber hinaus unterteilt PCM (basierend auf TA) Menschen in Persönlichkeitstypen – alle Menschen haben alle Persönlichkeitsanteile in sich, nur die Verteilung, also die Intensität der Ausprägung der Persönlichkeitsanteile ist individuell. Ich analysiere jeden Tag und zwar jeden Menschen, der in mein Blickfeld gerät. Ich weiß wahrscheinlich einiges mehr über die Menschen, die mit mir reden, als ihnen lieb ist. Ich sage dazu nichts, aber ich analysiere sie. Das ist keine wirklich bewusste Aktivität mehr, das ist so, als stoße etwas Gesagtes etwas in mir an, was mit dem Modell zu tun hat – daraus bilde ich dann eine Verknüpfung zu dem, was ich darüber weiß und schlussfolgere. Je nachdem, wie oft ich zu der gleichen Schlussfolgerung komme, wird sie fester oder muss noch öfter überprüft werden.
Erschreckender Weise komme ich sehr, sehr oft zu dem Ergebnis: Es muss diesem Menschen im Inneren sehr, sehr schlecht geht, aber er hat überhaupt keinen Zugang zu seinen Gefühlen. Und all die vergangenen Jahrzehnte hat er dafür gesorgt, dass in diesen Bereich seines Inneren kein Funken Licht fällt. A) weil es zu schrecklich wäre, sich das anzuschauen und b) weil sich dann sein ganzes Leben (insbesondere sein Sozialgefüge) verändern würde.
Dahingehend habe ich einen sehr großen Vorteil: Da mir das Sozialgefüge nicht so wichtig ist wie Neurotypischen und da ich sowieso nicht wirklich dazugehöre, gibt es für mich aus der Richtung keinen Anreiz, meine inneren Konflikte, Nöte, Leiden zu verdrängen. Es ist für mich vollkommen in Ordnung, wenn sich mein Sozialgefüge verändert. Für Neurotypische kann das mitunter eine schwere Lebenskrise auslösen.
Und jetzt höre ich mit dem Thema TA mal auf, denn ich glaube, dass das zu einem Spezialinteresse geworden ist und ich niemanden vollquatschen/volltexten will.

 

-   Seit Jahren gibt es Phasen in meinem Leben, in denen ich mich temporär für etwas interessiere. Das hat immer einen äußeren Anreiz. Meistens steht am Anfang die Feststellung, dass ich zu einem Thema so gut wie gar nichts weiß. Dann beschäftige ich mich z.B. mit juristischen Themen: Dem Erbrecht oder Arbeitsrecht. Mit einer Fremdsprache. Mit einem medizinischen Thema.

 

-      Darauf aufbauend habe ich vor kurzem beschlossen, mich mit jedem Thema zu beschäftigen, was mich interessiert und was mir Spaß macht. Deshalb liegen in meiner Wohnung nun vermehrt Logikrätsel, Allgemeinbildungsbücher und Mathematikbücher herum. Ich habe mich jahrelang immer nur ein wenig mit dem beschäftigt, was mich interessiert, weil ich dachte, dass ich aufgrund meiner sonstigen Beschäftigungen gar keine Zeit finde, mein Kopf sich dann irgendwann überfordert fühlt oder das nur ein Ausdruck dafür sei, dass ich nicht weiß, was ich will. All das habe ich ausgehebelt und Verblüffendes festgestellt: a) Mein Kopf ist überhaupt nicht überfordert, im Gegenteil, ich fühle mich seitdem ruhiger und ich nehme an, dass ich mich in Zukunft noch ruhiger fühlen werde, wenn ich das weiter ausbaue; b) es ist überhaupt kein Zeichen von „ich weiß nicht, was ich will“, es ist ein Zeichen dafür, dass mich sehr viel interessiert und mein Kopf viel Nahrung braucht und c) ich finde tatsächlich Zeit dafür, trotz all der Dinge, die ich sonst noch mache.

 

 

Das sind die Aspekte, die mir spontan eingefallen sind. Es gibt noch weitere Aspekte, die ich eindeutig dem Asperger-Syndrom zuordne, aber das dann in einem anderen Blogtext.

 

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