Solche Menschen

Ich höre immer genauer darauf, was andere Menschen sagen und wie sie es sagen. Welche Wörter sie benutzen und welche logischen Fehler ihnen unterlaufen. Nicht, um sie dann zu verbessern (obwohl das auch vorkommt und ich manchmal als Klugscheißer oder Besserwisser gelte), sondern um Schlussfolgerungen zu ziehen, was sie selbst vermittelt bekommen haben und nicht hinterfragen.

 

Ich habe beschlossen, einige dieser Dinge hier zu thematisieren. Es sind teils banale Äußerungen, die aber „haken“, die irgendwie bei mir hängenbleiben.

Ich habe nun schon öfter gehört, dass von „solchen Menschen“ die Rede ist, wenn es sich z.B. um folgende „Untergruppen“ handelt: (Ich wähle Beispiele, die ich selbst miterlebt habe)

  • Behinderte. Reales Zitat dazu: „Solche Menschen haben auch ein Recht darauf, zu leben.
  • Über Menschen mit sexuellen Vorlieben (z.B. masochistische Neigungen). Zitat: „Mit solchen Menschen stimmt was nicht. Das ist doch krank.“
  • Menschen, die andere betrügen, hintergehen (nicht meine Bewertung!). Zitat: „Es gibt halt solche Menschen.“
  • Wenn es darum geht, konkrete Unterschiede festzustellen. „Ja, bei uns ist das so! Aber es gibt solche … die machen das nicht.“

 

Menschen, die Führungspositionen inne haben und besser verdienen: „Solche Menschen kümmern sich nicht um die anderen.“ Menschen, die reich sind: „Solche Menschen sind auch nicht glücklich.“ Menschen, die länger studieren als andere: „Solche Menschen müssen doch mal anfangen zu arbeiten!“ Die Konstellation „solche Menschen“ kann man auch mit „die“ übersetzen: „Die wissen doch nicht, was Arbeit ist!“; „Die haben es gut, wir mussten früher ganz andere Dinge machen!“; „Die wissen nichts zu schätzen!“; „Die sind doch alle bekloppt.“

 

Übrigens: Den letzten Satz habe ich auch schon öfter geäußert. Deshalb kann ich das gut betrachten und vielleicht ist meine Antwort, weshalb ich so etwas sage, identisch mit der Antwort, weshalb andere in dieser umfangreichen Form solche Wortkombinationen verwenden.

 

Wenn ich sage: „Die sind doch alle bekloppt!“, dann ist das ein Zeichen dafür, dass ich gestresst bin. Meistens ist dem (auf der Arbeit) vorangegangen, dass ich versucht habe, eine Aufgabe strukturiert und zeitlich perfektioniert zu Ende zu bringen. Dann kommt irgendetwas dazwischen und bringt meine Planung durcheinander. Das ist dann der Punkt, an dem ich sage: „Die sind doch alle bekloppt.“ Ich verwende „die“, damit ich nicht persönlich werden muss, damit ich mich nicht mit einer speziellen Person auseinandersetzen muss. Ich halte es allgemein und verlasse meine rationale Ebene. Diese Äußerung beinhaltet kein Lösungspotential. Anstatt selbst zu schauen, ob ich diesen Umstand provoziert bzw. inszeniert habe (und wie ich nun weiter vorgehe), schiebe ich die Schuld auf andere, die ja bekloppt sind.

 

Im Privaten denke ich das häufig über die „Christen“, mit denen ich aufwachsen musste und die mich negativ geprägt haben. Mit „die sind doch alle bekloppt“ kann ich gut wegschieben, was aber in meinem Inneren als Angst und Schrecken auslösende Überzeugung herrscht. Auch hier beinhaltet meine Äußerung kein Lösungspotential.

 

Und warum sagen andere so etwas wie: „Solche Menschen haben auch ein Recht darauf, zu leben!“? Wer sind „solche Menschen“? Ich denke, dass Menschen, die das sagen, diese Untergruppen von sich wegschieben wollen („mit dem Menschenschlag habe ich nichts zu tun“), vielleicht sogar abwerten, und sich als etwas Besseres, Normaleres („normal“ scheint wichtig zu sein) ansehen.

 

Ich finde es verwirrend, dass – wenn andere Menschen vor sich hin reden – diese (oben aufgelisteten) Beurteilungen, Bewertungen durchschimmern, sie aber, wenn ich sie konkret frage, antworten, dass doch alle Menschen wertvoll oder dass sie selbst doch auch nicht normal seien, Fehler machen, Macken haben usw. So langsam vermute ich, dass in vielen Menschen zwei sichtbare Ebenen (und gewiss ganz viele unsichtbare) bestehen:

 

Die eine (unbewusste) Ebene ist die, die nicht hinterfragt wird – das ist nun mal alles so; das wurde so gelernt. Auf dieser Ebene wird einfach daher geplaudert … „hachja“, „solche Menschen“, „ja ja, so ist das“ … bla bla ….

Die andere (bewusstere) Ebene ist die, die im Inneren aktiviert, dass nicht angeeckt werden darf: „Nein, nein … ich bin nicht normal. Wer ist das schon? Wir sind doch alle wertvoll.“

 

Mir fehlt die Klartext-Ebene. Aber ich verstehe, warum sie gemieden wird, weil man dann nämlich selbst gemieden wird (und das ist für NTs die Katastrophe). Wenn ich auf die Klartext-Ebene gehe, dann wird das als unhöflich eingestuft. Ich habe mich davon zurückgezogen und zwar in dem Moment, als ich merkte, dass mein Hinterfragen oder meine Anmerkungen auf gesellschaftliche Überzeugungen stoßen, die auf keinen Fall angetastet werden dürfen. Das letzte Mal habe ich angezweifelt, dass die geäußerte Meinung, jede Mutter würde ihr Kind lieben, korrekt ist. Ich bin zwar autistisch, aber dass das bis dahin der Gipfel der Unverfrorenheit meinerseits war, habe ich auch mitgekriegt. Übrigens habe ich mich von dieser Ebene zurückgezogen, um meinen Arbeitstag zu ertragen und nicht noch von allen Seiten angefeindet zu werden – ich schweige nun meistens.

 

Ich finde es faszinierend, wenn eine Gruppe von Menschen zusammensteht und sie sich gegenseitig in ihren Überzeugungen bestätigen („Das ist doch so, oder sehe ich das falsch?“ – was so viel heißt wie: „Bestätige meine Meinung, denn ich selbst glaube nicht wirklich daran!“ oder es heißt: „Bestätige meine Meinung, sonst bist Du raus aus unserer Gruppe, Du …!“). Das ist ein wenig wie Sauferei – sie machen sich gegenseitig betrunken mithilfe ihrer wackeligen Überzeugungen, die aber wenigstens in der Gruppe stark sind.

 

Und dann kommt da so ein Autist daher … („solche Menschen haben ja eh kein Taktgefühl!“ – übrigens habe ich ein gutes Taktgefühl, musikalisch bin ich) und sagt im übertragenen Sinn: „Ähm, Verzeihung, ihr habt da was geäußert, wovon ich nicht überzeugt bin. Ich denke, das ist nicht korrekt. Ich bringe mal kurz euer Lebensfundament ins Wanken.“ Ach, Du liebe Zeit …

 

Aber zurück zum Thema „solche Menschen“. Zumindest ist solch eine Äußerung eine Distanzschaffung zwischen sich selbst und „diesen“ Menschen. Es wird seine Funktion haben (das steht außer Frage!), wie sie auch eine Funktion bei mir hat, wenn ich andere als „bekloppt“ betitle.

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