Zwei Wege

Ich habe einen großen Vorteil gegenüber vielen anderen Menschen: Es ist okay für mich, alleine zu sein; Teil eines Sozialgefüges zu sein ist mir nicht so wichtig wie ihnen. Ich habe gelernt, dass die allermeisten Menschen, die nicht aspergertypisch sind, auch im Beruf die soziale Nähe suchen und darunter leiden, wenn sie bei privaten Unterredungen ausgeschlossen werden – in den Pausen oder während Arbeitssituationen, in denen gesmalltalkt wird. Ich dagegen suche das Alleinsein und die Ruhe, es ist mir nur lieb, wenn ich nicht eingebunden werde.

 

Das ist der Vorteil, den ich habe, da ich sowieso einen einsamen Weg begehe und weiter begehen werde:

 

Durch meine Arbeit an mir selbst, entferne ich mich immer mehr von anderen Menschen. Woraus besteht diese Arbeit an mir selbst? Es ist: Das Betrachten von vermittelten Überzeugungen und die Verwerfung derselben; das Fühlen von verdrängten Gefühlen; das Analysieren von Denkweisen, die destruktiv sind; das Aushebeln von Verboten (z.B. nichts erreichen zu dürfen); das Umgehen und Entlarven von Gefühlen, die mit dem Jetzt nichts zu tun haben; die Annahme meines Körpers und das Herausfinden, was ich möchte und was mir gut tut; das „richtige“ Sprechen bzw. die „richtige“ Nutzung von Sprache, um nicht weiterhin alles Vermittelte zu bekräftigen/verstärken (Beispiel: „Da muss man durch!“), und einiges mehr, was aber zum Erklären zu umfangreich wäre, da ich davon ausgehe, dass die meisten meiner Leser nicht die Kenntnisse der Transaktionsanalyse haben wie ich.

 

 

Wenn ein Mensch, der auf das Sozialgefüge weitaus mehr angewiesen ist als ich, diese Selbst-Arbeit auf sich nimmt, wird er womöglich schnell feststellen, dass sich eine Kluft zwischen ihm und den anderen auftut. Mir ist diese Kluft seit meiner Erdenzeit bekannt – das ist nichts Neues, ich kann damit umgehen. Aber jemand der nicht geübt ist? Das stelle ich mir sehr schwer vor.

 

Diese Selbst-Arbeit bleibt auch nicht ohne Folgen. Ich habe mich deswegen von zwei Freundschaften getrennt, da mir klar wurde, welche irreale Funktion sie haben – dort wurden viele Überzeugungen bestätigt, die ich in meiner Kindheit vermittelt und übernommen hatte. Ebenso wird es den meisten Menschen in Beziehungen gehen: Sie sind mit jenen Partnern zusammen, weil diese das Bekannte vermitteln (oder sie stellen fest, dass sie den anderen geheiratet haben, weil er sich so wie ein Elternteil verhält); will man sich nun aber von diesem Bekannten lösen, ist womöglich eine Trennung kaum zu umgehen.

 

Auch deshalb ist es so schwer.

 

Ich weiß nicht, ob es noch mehr Wege gibt, aber ich sehe momentan zwei:

  1. Das Verharren im Bekannten – das ist sicherer und angenehmer aber weitaus unvitaler. Das bedeutet: Weiterhin vor sich selbst fliehen, Gefühle nicht fühlen, z.B. Überzeugungen der Eltern predigen und leben usw.
  2. Der Weg zu sich selbst – der ist unangenehmer, mitunter gefährlich aber weitaus vitaler. Das bedeutet: Sich selbst anschauen, Gefühle fühlen, übernommene Überzeugungen anzweifeln usw.

 

Mein Eindruck ist, dass sich die allermeisten für Weg 1 entscheiden. Das hat gute Gründe. Weg 2 ist ein teils sehr beängstigender, einsamer und kalter Weg. Er ist riskant. Und manchmal denke ich, ich komme gar nicht mehr aus dem Dunkeln, welches ich in mir entdeckt habe, heraus. Aber doch: Immer wieder tauche ich auf daraus und dann erlebe ich eine temporäre Ruhe, für die es sich lohnt, ins Dunkle zu gehen.

 

Und so ist es gut, dass ich Asperger-Autist bin, denn sonst müsste ich auch noch mit der Tatsache klarkommen, dass ich mich immer weiter von den anderen entferne. Ich merke es zwar trotzdem, dass mir das Leben der meisten anderen Menschen immer absonderlicher erscheint, aber ich leide nicht darunter, dass ich kein Teil ihres Sozialgefüges bin.

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