Schon vor dem Ereignis, welches ich schildern möchte, hatte ich zig Situationen erlebt, in denen in mir Angst ausgelöst oder mir Angst gemacht wurde. Meine Kindheit war durchzogen von Angst machendem Glauben, und so lernte ich das Gefühl Angst schon früh kennen. Und da meine Familie kein offensichtliches Interesse daran hat, ihre eigenen Ängste zu hinterfragen und zu fühlen, erlebte ich auch noch deren Ängste, ohne dass sie ausgesprochen wurden.
Es war an einem Sonntagmorgen. Ich war 15 oder 16 Jahre alt. Es ist Brauch, dass Kinder jener Konfession, der ich angehörte, nach ihrer Konfirmation mit 14 Jahren sofort in den Kirchenchor eintreten. Zuvor hatte man natürlich bereits im Kinderchor gesungen. Nun war es also so, dass ich im Kirchenchor singen „durfte“, mit den großen. Sopran sang ich. Natürlich gab es auch andere Chöre: Jugendchöre, spezielle Chöre, einen Gospelchor hatten wir auch mal. Ich war mit dabei.
Im Kirchenchor stand ich sehr weit vorne. Heißt: Wenn der Chor sich erhob und sich gen Dirigent wendete, stand ich an 1. oder 2. Position. An jenem Sonntagmorgen stand ich ganz vorne, links und rechts die anderen, hinter mir auch viele. Vor mir der Dirigent, hinter ihm die Gemeinde, die den Chor anstarrte. Ich hielt die Chormappe in meinen Händen und trällerte mit. Plötzlich, wie aus dem Nichts, beschleunigte sich mein Herzschlag und ich zitterte am ganzen Körper, sodass mir beinahe die Mappe aus der Hand fiel. Ich schlug die Chormappe zu, legte sie auf die Bank und verließ das Kirchenschiff. Ich ging auf Toilette und sah mir meinen Körper an: Ich hatte keine Kontrolle über dieses Zittern. Mein ganzer Körper zitterte. Ich sah meine Hände an.
Was war los?, fragte ich mich. Es war sonderbar: Als diese Symptome auftraten, hatte ich kein Gefühl gespürt, sondern nur eine starke körperliche Bedrängnis, und den Gedanken: „Weg hier!“ Das Gefühl kam erst als ich den Chor verlassen hatte: Angst, Panik. Ich hatte es nicht unter Kontrolle. Sicherlich werde ich schnell geatmet haben, wie das so ist, wenn Adrenalin ausgeschüttet wird und man nicht geübt ist in solchen Dingen. Ich habe nie wieder vorne im Chor gestanden. Mit mir stimmte irgendetwas nicht, das wusste ich. Mir war es auch vorher klar gewesen, aber dieses Ausgeliefertsein war neu und sehr beängstigend.
Heute weiß ich, dass es nicht unüblich ist. Ich habe einige Texte von Aussteigern dieser Konfession gelesen, die ähnliches beschrieben: Plötzlich war da diese Angst. Plötzlich zitterte ich am ganzen Körper. Plötzlich fühlte ich mich bedroht. Usw.
Eine ähnliche Situation gab es später in meinem Leben nochmal. Es ist so, als würde jeder erdenkliche Halt nicht mehr existieren, und Du fällst in ein dunkles Nichts und niemand, und nichts kann Dir helfen. Du weißt: Du bist ganz alleine damit, dort ist nur dieses schwarze Nichts, und es fühlt sich an, als würden sich alle zuvor zusammengefügten Teile loslösen und herumschwirren in einem Raum ohne Schwerkraft. Machtlos. Du kannst nichts tun.
Heute weiß ich, dass das genau der richtige Weg ist: Diese Ohnmacht spüren.
Ich glaube dann, dass ich sterben werde. Und auch wenn ich bei dem einen Mal nicht sterbe, dann gewiss beim nächsten Mal.
Das zweite Mal in meinem Leben, als diese Angst eintrat und alles erschüttert wurde und ich ins Nichts stürzte, alles in mir zerteilt wurde, war ich einige Jahre älter und es ging um einen Bildungsabschluss. Plötzlich (wieder mal) war meine Angst da, im ungeeignetsten Moment, während einer Klausur. Alles wurde wieder zerteilt und ich sowie alles Geregelte, Festgesetzte zerfiel in tausend Teile. Ich war machtlos. Ich lernte dann, um diesen Abschluss zu erreichen und die Klausuren zu überstehen, ruhig zu atmen, während mein Körper in Panik Adrenalin ausschüttete.
Autogenes Training, während das Herz in der Brust rast, das ist eine Kunst. Aber nicht die Lösung. Mit ach und krach habe ich diesen Abschluss erzwungen (anders lässt sich das nicht ausdrücken, ich war sehr verzweifelt).
Jetzt habe ich den Eindruck, dass folgender Mechanismus betätigt wurde: Ich habe meine Gefühle verdrängt und nicht fühlen wollen; um meine Aufmerksamkeit aber darauf zu lenken, habe ich meinen Körper unbewusst instrumentalisiert. Oder simpel ausgedrückt: Die Teile in mir, die gehört werden wollten, sagten: „Hey! Schau uns mal an!“
Insbesondere wenn es um Angst geht, schaue ich oft noch weg. Angst ist ein Grundbestandteil meines Lebens, und in den meisten Fällen empfinde ich zu 80 Prozent Angst, das andere ist etwas anderes (abgesehen von den Grundbedürfnissen). Ich kann mit dieser Angst leben, aber oft will ich sie nicht sehen, und schon gar nicht, wenn sie mich plötzlich erfasst und ich sie gerade nicht brauchen kann. Aber eigentlich möchte ich sie akzeptieren.
Früher habe ich gedacht, sie sei ein Feind, ein ekliges Etwas, was ich bekämpfen muss. Für die Zukunft, vielleicht sogar für die nahe Zukunft, ist in meinem Leben ein Projekt geplant, welches dazu führen wird, dass ich mich ihr zuwende, um zu sehen, was da los ist.
Aber momentan habe ich noch Angst vor dem „Projekt Angst“.
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