"Aus einem Guss"

Dieses Thema ist meines Erachtens eines der wichtigsten. Bevor ich ein Thema schriftlich niederschreibe, lege ich meistens bereits eine Word-Datei mit dem Namen des Themas an und lasse diese Datei auf meinem Desktop „liegen“, bis ich es verschriftlichen kann. Dieses Thema liegt schon einige Tage dort und jedes Mal erinnere ich mich daran, wenn mein PC hochgefahren ist. Dass ich bis jetzt nichts dazu geschrieben habe, zeigt, dass ich mich noch nicht daran getraut habe.

 

Bis jetzt.

 

Ein AS, den ich sehr schätze, hat das, worum es mir geht „aus einem Guss“ genannt.

„Aus einem Guss bedeutet“ für mich: „Festgelegt“ sein, berechenbar sein; das Ziel ist es, stets gleich zu reagieren, einschätzbar zu sein; irgendwann mal festgelegte Werte, Normen, Ziele, Wünsche, Meinungen, Gedanken nicht zu verändern. Jener, der aus einem Guss ist, ist klar zu definieren, hat klar erkennbare Eigenschaften.

 

Baue ich mein Leben auf diesem Fundament auf, verneine ich die Entwicklung meiner Persönlichkeit, lege mir Ketten an. Es könnte geschehen, dass man als „aus einem Guss“-Menschen Dinge (nicht) tut, weil man irgendwann gesagt hat, dass man sie (nicht) tut. Und das hat dann nichts mehr mit der Realität zu tun, in der man sich entscheidet, sondern mit dem Zwang, aus einem Guss sein zu wollen.

 

Ich weiß nicht, ob klar geworden ist, was es bedeutet, sich diese Fesseln anzulegen, deshalb möchte ich Beispiele nennen:

 

Mein Vater sagte in meiner Kindheit (und heute auch manchmal noch) folgendes: „Entweder ganz oder gar nicht.“ Das war lange einer meiner Orientierungssprüche: Entweder mache ich es ganz oder gar nicht. Im Laufe der letzte zwei Jahre fragte ich mich das: „Und was passiert, wenn ich es halb mache?“

 

Nehmen wir an, jemand entschließt sich, eine Ausbildung zu machen. Wenn er nach einem halben Jahr merkt, dass das nichts für ihn ist, warum sollte er es dann weiter machen? Entscheidungen können falsch sein. Und es gibt zig Entscheidungen, die wir treffen, die sich im Nachhinein als falsche Entscheidungen herausstellen. Aber warum sich durch etwas durchquälen, was man nicht will? Warum etwas aushalten, weil man sich entschieden hat, es zu beginnen?

 

Noch schlimmer ist es im Bereich des Verhaltens: Aus einem Guss bedeutet, dass jemand immer freundlich ist, weil er vorrangig freundlich ist. Oder: Immer gleich zu reagieren. Oder: Immer hilfsbereit sein, weil er oft hilfsbereit ist.

 

Ich bekenne mich:

Ich bin so nicht. Ich bin nicht aus einem Guss. Wir haben alle unterschiedliche Persönlichkeitsanteile in uns, wir haben alle Erfahrungen gesammelt, alle sind wir geprägt von zig Begebenheiten. All dieses auf einen Nenner zu bringen, ist Vergewaltigung der Persönlichkeit. Grundsätzlich teile ich mein Leben in zwei Leben: Das Leben unter den NTs und das Leben mit mir alleine. Im ersten Fall trage ich eine Maske. Ich kenne eure Regeln, ich weiß, was euch wichtig ist usw. und ich erfülle dieses soweit, dass es für mich gerade so erträglich ist, wobei ich sehr oft über die Erträglichkeits-Grenze gehe.

Im zweiten Leben bin ich AS. Und ich will keinen NT in meinem zweiten Leben, der von mir das verlangt, was ich sonst aus meinem NT-Masken-Leben kenne. 

Ich habe schon öfter gelesen, dass AS dazu neigen, alles kategorisieren zu wollen, ich erlebe bei den Neurotypischen, dass sie andere Menschen kategorisieren und dann bei ihrer Kategorisierung bleiben, egal wie die Realität ist, sie blenden diese aus. Oder sie reagieren plötzlich so: „Das hätte ich von Dir nicht erwartet!“, „Ich bin sehr enttäuscht von Dir!“, oft zu lesen, wenn jemand ein Verbrechen begeht: „Das hätte ich nie gedacht!“, oder sich jemand umbringt.

 

Mithilfe meines Neffen und meiner Nichte habe ich festgestellt, dass ein gesundes und vitales Kind nicht aus einem Guss ist. „Aus einem Guss zu sein“ ist etwas Krankes. Kinder sind facettenreich, einfallsreich, in ihren Bedürfnissen breit gefächert. Die Erziehung, die Institutionen, die gesellschaftlichen Normen sorgen dafür, dass ein Kind gestutzt und zurechtgeschnitten wird: Es wird in eine passende Form gepresst, und diese Formpressung schneidet hier und dort Facetten ab, legt Bedürfnisse lahm, will Vitales abtöten, und heraus kommt ein formgepresster, angepasster Mensch, der verlernt, seine Bedürfnisse zu kennen, zu benennen und zu befriedigen. Er wird krank.

Meine Nichte zum Beispiel kann sehr quierlig sein. Letztens habe ich sie ordentlich durchgeschüttelt und sie quiekte dabei und fand das toll. Es kann sein, dass sie ein paar Stunden später ganz ernst mit ihrem Plüschpferd spielt und keiner dabei sein soll. Sie befriedigt ihre Bedürfnisse – eine sehr gesunde Art und Weise.

 

Eine Kollegin hat mir in den letzten Tagen ein wunderbares Beispiel dafür gegeben, wie das funktioniert. Ich habe ihre Aussage übertragen auf viele andere Bereiche. Folgende Situation:

Ich hatte Schmerzen.

Sie fragte: „Hast Du schon Tabletten genommen?“

Ich (war etwas verblüfft): „Nein. Natürlich nicht. Das muss behandelt werden, nicht betäubt.“

Es ging darum, arbeitsfähig zu bleiben.

 

Und so ist es mit einem Menschen, der dazu gezwungen wird, aus einem Guss zu sein: Er soll gesellschaftsfähig bleiben, nicht anecken. Und wenn er aneckt, dann bekommt er die passenden Diagnosen für seinen Facettenreichtum.

Deshalb sollen wir ja auch nicht alles fühlen beziehungsweise, wenn wir es fühlen, dann geht es nur noch darum, es „weg zu kriegen“. Allgemein auch bekannt unter der Aussage: „Lenk Dich doch mal ab!“, was so viel heißt wie: „Fühl nicht, was Du fühlst; nimm es nicht wahr, arbeite nicht konstruktiv daran, blende es einfach aus.“ Was das Gleiche ist wie wenn man zu sich selbst sagt: „Ich will mich nicht mit mir beschäftigen!“

 

Das, was gesund ist, ist in der Gesellschaft verpönt.

Sätze wie:

„Dem zeige ich schon, wie er sich verhalten soll!“

„Der wird schon sehen, dass er damit nicht weiterkommt!“

„Das werde ich dem auch noch austreiben.“

Usw., sind Aussagen, die auf Gewalt hindeuten. Zum Glück handelt es sich oft um erwachsene Menschen. Aber genau das machen sie auch mit Kindern und sie merken nicht einmal, dass sie damit Zerstörung betreiben.

 

Das Thema ist für mich so wichtig, weil ich selbst aus einem Guss sein sollte/soll. Und ich spüre die Traurigkeit darüber, dass viele Bereiche in mir stillgelegt wurden (und die ich stillgelegt habe), damit ich geliebt werde. Ich weiß genau, wie ich sein soll, damit ich akzeptiert werde, und ich weiß, wie ich nicht sein soll. Perfekt, sachlich, akkurat, freundlich, wenn es geht auch gläubig, nicht aneckend, stets verständnisvoll, arbeitsam (sehr wichtig!), strebsam – das ist akzeptabel. Aber es gibt Facetten in mir, die andere Dinge wollen und ich bin dabei, diese Dinge zu erfüllen.

Aber an einem freien Tag ohne ein schlechtes Gewissen etwas zu tun, was nicht irgendwie mit Arbeit zu tun hat … das scheint mir immer noch ein weiter Weg zu sein.

Mal wütend auf jemanden sein, weil er seine Arbeit nicht richtig gemacht hat – ach Du meine Güte … danach fühle ich mich derart schlecht, als hätte ich ein Verbrechen begangen. Meinen Chef um Urlaub bitten: Darüber denke ich drei Tage nach. Es gibt viele Beispiele.

 

Also, wenn Du mich wirklich kennen lernen willst, dann erwarte nicht, dass ich aus einem Guss bin. Vergiss es! Ich kann witzig sein, geradezu schauspielerisch clownhaft; ich kann sehr ernst und rational sein, kalt wirken; ich kann stundenlang schweigen, mich kaum bewegen, kaum reagieren, wie weggebeamt erscheinen; ich bin froh, wenn ich delegieren darf und ich bin an anderen Tagen froh, wenn ich nicht delegieren muss; ich bin an manchen Tagen sehr geduldig, an stressigen Tagen sehr ungeduldig.

Es gibt Verhaltensweisen an mir, auf die man sich aber stets verlassen kann, da gibt es nur minimale Schwankungen, die kaum merklich sind. Das ist dann eine natürliche Festlegung, eine gesunde Festlegung.

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