Kranker Teil des Systems

Stellen wir uns einen Kompost vor, der irgendwo im Garten herumsteht: Dort wird allerlei Zeug reingeworfen. Alles, was kompostierbar ist: Gartenabfälle oder auch Essensreste. Das wird da gesammelt.

So ähnlich läuft das in Familiensystemen ab. In der Psychologie wird eine Familie oft als „System“ angesehen, in dem alle Teile zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen.

Gefühle, Eigenschaften, Denkmuster, die nicht gewollt sind, die weg sollen, die einzelne im System bei sich nicht sehen, wahrnehmen und erleben wollen, werden auf jemanden drauf gestapelt und so fungiert derjenige als „kranker Teil des Systems“. Das ist praktisch, denn dann muss sich derjenige, der da was drauf wirft, nicht mehr damit beschäftigen, er gibt es also an jemanden weiter.

 

Das kann alles Mögliche sein:

Gefühle

Verrücktheiten

Überzeugungen

Und vieles mehr.

 

Ich war lange Zeit ein kranker Teil meines Familiensystems. Und in manchen Bereichen bin ich das noch.

Vor einiger Zeit habe ich festgestellt, dass die Verrücktheit, die mir seit meiner Kindheit nachgesagt wurde, gar nicht meine Verrücktheit ist. Diejenigen, die mir das übertragen haben, wollen sich ihre eigene Verrücktheit nicht anschauen. Sie haben sie an mich delegiert. Ich sollte stellvertretend für sie verrückt werden/sein, damit sie sich gesund fühlen. Und ich, die ich als Kompost diente und diene (bewusst der Begriff: dienen), habe diese Rolle eingenommen, um überhaupt eine Rolle zu haben, um leben zu dürfen. Ohne diese Rolle hätte ich in dem System nicht überlebt.

 

Das ist ein System, in dem Kinder nicht akzeptiert werden, wie sie sind. Sie sollen für etwas gut sein: als Trost oder Sündenbrock oder Retter der Eltern, als Unterstützer, als Sinngeber, als Abladeplatz und vieles mehr. Leider habe ich bislang kein Familiensystem kennen gelernt, in dem das anders ist.

 

Dieses Familiensystem wurde dort weitergeführt, wo ich gelandet bin, als ich suizidal war und Alkoholmissbrauch betrieb: In Kliniken.

 

Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass ein „kranker“ Mensch nur geheilt werden muss, damit das Familiensystem wieder gesund ist (im System ist der Mensch krank geworden und krank ist letztendlich das System).

Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass nur der Mensch Hilfe und Behandlung braucht, der die Symptome zeigt.

Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass er gesund bleibt, wenn er in das kranke System zurückkehrt.

 

Für ein System ist es äußerst praktisch (wie bei der Kompostiererei), einen Verrückten oder Sündenbock oder ein schwarzes Schaf zu haben: Dann braucht man sich gar nicht mit seinen Problemen beschäftigen; dann kann man alle Energie darauf verwenden, diesem „Kranken“ zu helfen, über ihn zu reden, zu beratschlagen usw.

Damit kann man sich sehr lange und sehr intensiv beschäftigen, dass ja nicht der Verdacht aufkommt, dass die Kompost-Scheiße vielleicht einem selbst gehört.

 

Ich bin sehr traurig darüber, wenn ich darauf schaue, dass ich als Müllablade-Platz diente. Das hat kein Kind verdient.

Mein Job ist, mich selbst freizuschaufeln. Und wer mal einen Gartenkompost entmistet hat, weiß, was das für eine Arbeit ist. Und dann bedenke, dass dieser Kompost schon jahrzehntelang unentleert da herumsteht und zugemistet wurde.

Der größte Schmerz sitzt für mich in dieser Aussage: Anstatt Kompost zu sein, hätte ich als Kind auch geliebt werden können. Anstatt Kind sein zu dürfen, war ich der Komposthaufen der Familie.

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