Wo ist die Milch?

Asperger-Autisten wird nachgesagt, dass sie Veränderungen nicht mögen. Das ist pauschal ausgedrückt. Aus meiner Sicht kommt es darauf an, um welche Veränderungen es geht.

Ich habe schon mehrfach meinen Job gewechselt. Aus dem schlichten Grund, dass ich mich a) schlecht damit fühlte, b) zu wenig Geld verdiente, c) oder Geld verdienen musste, weil ich studierte oder mich weiterbildete. Mich interessieren Optimierungen.

 

Seit einiger Zeit handhabe ich das so:

Zu Beginn steht, dass ich mich nicht wohl fühle. Dann frage ich mich, was gegeben sein müsste, damit ich mich wohl fühle. Und dann schaue ich, wie ich das realisieren kann.

Vor über einem halben Jahr habe ich endlich eine Wohnung gefunden, in der ich mich wohl fühlen kann: Sie ist groß und sie ist – was das wichtigste ist – sehr ruhig gelegen. Als Asperger-Autist brauche ich sehr viel Ruhe. Wenn ich in meinem Privatleben Lärm um mich habe, werde ich verrückt oder neige zu Selbstverletzungen in Kombination mit einem Overload.

 

Das sind für viele Menschen, die ich kenne, große Veränderungen: Neuer Job, neue Wohnung. Für mich sind es notwendige Optimierungen, um überleben und letztendlich angenehm leben zu können. Die lärmende Welt der Neurotypischen macht mich krank, also muss ich mich davor schützen.

 

Und jetzt kommen Neurotypische, die angeblich so gut mit Veränderung umgehen können. Habe ich schon oft von ihnen gehört: „Ich habe üüüberhaupt kein Problem mit Veränderung.“

Was verändern die denn?

Ich beobachte das schon sehr, sehr lange: Sie verändern sehr viel. Sie verändern ständig. Aber das, was sie verändern, ist für mich eine Scheinveränderung.

Dafür möchte ich drei Felder beleuchten:

 

1.       Einzelhandel:

 

Ich schaue nicht nur aus Sicht des Kunden darauf, sondern auch als Angestellte, da ich früher im Einzelhandel gearbeitet habe. Im Einzelhandel wird permanent etwas verändert. Plötzlich liegt der Käse in einem anderen Fach. Plötzlich sind komplette Regale umgeräumt. Heute Morgen stand in dem Markt, in dem ich einkaufen gehe, die Milch-Palette circa vier Meter von ihrem eigentlichen Platz entfernt (Wo zur Hölle ist die Milch??). Warum? Es war mir nicht ersichtlich. Das sehe ich als Kunde und das kann in gestressten Situationen dazu führen, dass ich leise fluchend durch die Gänge gehe oder den Markt verlasse.

Als ich im Einzelhandel gearbeitet habe, habe ich solche Veränderungen direkt miterlebt. Teils wusste ich als Mitarbeiter gar nicht mehr, wo irgendetwas stand. Anscheinend brauchen viele andere Menschen eine Form von Bewegung – es wird nicht anhand einer logischen Struktur entschieden. Es ist ein „ach ja, das könnten wir eigentlich mal da hinstellen“. Als ob sie sich Bewegung in ihrem Leben vorgaukeln müssten.

 

2.       Beruf:

 

Im Job habe ich es öfter erlebt, dass auch dort Veränderungen vorgenommen werden, die auf mich nicht den Eindruck machten, dass sie zur Optimierung getroffen wurden. Büros werden verändert, Sitzgruppen umgestaltet, Fenster beklebt, Bücherregale neu sortiert … wahhh …

 

3.       Privat:

 

Ich habe mir vor ein paar Tagen endlich ein E-Piano gekauft. Das war seit vielen Jahren ein großer, großer Wunsch. Das ist für mich eine große Veränderung, denn nun steht das da. Ich liebe es aber es steht da. Und da es da so steht, wo vorher nichts stand, muss es erst einmal integriert werden. Das heißt: Immer wieder, wenn ich daran vorbei gehe, schmunzle ich zwar, schaue aber auch skeptisch. Das steht da jetzt und das bleibt da auch stehen, das ist der ausgesuchte Platz, das ist der optimalste Platz.

So ähnlich wie mit meiner Couch, die ich vor ein paar Monaten kaufte: Die ist schon integriert. Die steht da und die bleibt da stehen. Da liegen Kissen drauf und die bleiben da auch liegen.

 

Anders bei vielen anderen Menschen:

 

Da wird umgeräumt, Farben werden verändert, es wird geschoben, verrückt, verdreht … Hauptsache. Bilder hängen an irgendwelchen Wänden, ihre Position wird verändert, das Bild wird verändert. Gardinen werden verschoben, eingefärbt, neu gekauft. Ich habe Vorhänge vor meiner Terrassentür: Die habe ich mir ausgesucht und fertig. Die bleiben da hängen. Die gefallen mir, das habe ich gut überlegt und so bleibt es auch. Die werden da so lange hängen, wie ich hier wohne – es sei denn, sie nehmen irgendeinen Schaden, aber selbst wenn: Ich weiß ja, wo ich sie bestellt habe, dann bestelle ich sie nochmal.

 

Interessant ist für mich an all dem:

Viele andere Menschen nehmen solche Veränderungen vor, aber vor einschneidenden, lebensumgestaltenden Veränderungen schrecken sie zurück. Ich habe den Verdacht:

Sie verändern nur in dem kleinen Bereich, der in ihnen keine Angst auslöst. Die Bereiche, die in ihnen Angst auslösen wie: Ein neuer Job, Umzug, eine neue Stadt (um dort z.B. zu arbeiten) etc. nehmen sie nicht vor. Und vielleicht bedingt sich das gegenseitig: Ich bin sicher, dass viele Menschen, die z.B. mit ihrem Job nicht zufrieden sind, gerne etwas verändern würden aber zu viel Angst haben; um sich aber vorzugaukeln, es gäbe doch Veränderung in ihrem Leben, kaufen sie sich neue Sachen, werkeln sie an irgendetwas herum, schieben ihre Sofas von einem Raum in den nächsten, kaufen sich permanent neue Kleidung, neue Kissenbezüge, neue Wandverschönerungen, neue Schubladenknäufe, zwanzig Paar Schuhe …

 

Veränderung ist mir sehr wichtig, wenn sie zur Lebenszufriedenheit beiträgt. Optimierung ist mir sehr wichtig.

Aber meine Form der Veränderung bedeutet auch, dass viele Ängste in mir aufsteigen. Eine Milch-Palette von a nach b zu schieben, löst in mir keine Angst aus.

Aber sowas zu tun ist ja auch leichter, als sich die Fragen zu stellen, die ich mir in der Vergangenheit schon oft gestellt habe:

 

So wie ich lebe und was ich erreicht habe – soll das alles sein?

Was will ich eigentlich?

Und für mich immer wieder eine wichtige Frage: Wenn ich irgendwann sterbe, bin ich dann zufrieden mit meinem vergangenen Leben? Oder bereue ich, dass ich xy nicht wenigstens versucht habe?

 

Ich habe auch (versteckte) Scheinveränderungen hinter mir, insbesondere im beruflichen Bereich. Meine Eltern haben mir als Kind vermittelt, dass ich beruflich nicht erfolgreich sein darf. Das habe ich abgespeichert, wie jedes Kind vieles abspeichert und als Erwachsener nach diesen (unbewussten) Mustern lebt. Ich habe das erkannt und beschlossen, diese Muster zu beheben. Das löst sehr viel Angst aus.

Deshalb weiß ich, dass richtige, einschneidende Veränderungen Gefühle auslösen, die erst einmal wirklich, wirklich schrecklich sind.

Wenn ich sehe, dass jemand mit fahrigen, hektischen Handlungen versucht, Veränderung herbeizuführen und sich damit selbst belügt, finde ich das sehr bedauerlich. Das wirkt auf mich dann, als ob ein Kind versucht, seine bedrückende und schreckliche Situation zu verschönern … aber das ist in meiner Welt keine zur Lebenszufriedenheit führende Veränderung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Stiller (Samstag, 23 Februar 2019 10:10)

    Fabelhafter Text!

  • #2

    Widersynnig (Samstag, 23 Februar 2019 16:00)

    Gut beschrieben.

  • #3

    kikkulade (Montag, 25 Februar 2019 10:22)

    Super! Deine Sicht auf die NT's bezüglich Veränderung kann ich bestätigen. So ist es. Sehr, sehr oft. Um der Angst nicht zu begegnen.