Denkleistung

Ich habe keine Ahnung, wie Nicht-Autisten in sozialen Situationen bewusst denken. Ich möchte euch mal einen Einblick in meine Denkleistung geben.

Oder anders: Ich wirke nicht wie ein Autist, weil ich ja so hervorragend zu recht komme? Ihr Ahnungslosen!

 

Das hier ist die Wahrheit:

 

Teambesprechung.

Fünf Leute sitzen da herum. Ich scanne ab, wer da ist und wie ungefähr die Leute gestimmt sind, um abschätzen zu können, ob das, was ich eventuell anzubringen gedenke, akzeptiert wird. Achja: Und vorher bin ich mehrfach durchgegangen, wie ich es anbringe, das heißt: Wie muss der Wortlaut sein, um in niemandem das Gefühl auszulösen, dass es ein Angriff ist; falls es Kritik ist: Wie formuliere ich das am besten und … ja, ich weiß es genau … was sagen dann Person x und Person y dazu? Und wie entschärfe ich schon vorher, was sie eventuell sagen werden?

 

Ach Du meine Güte … und wenn ich zu Person z etwas sage, dann weiß ich genau, dass Person x das gut finden wird (ist das dann schon „ich schlag mich auf die eine Seite, gegen die andere?“ und … ist das vllt. insgeheim eine meiner Intentionen?).

 

Okay. Es beginnt:

Erst wird gesmalltalkt – das ist Beziehungsebene, da sagt der eine was Lustiges, der andere berichtet vom Wetter. Schön und gut. Kommt darauf an, wer die Teambesprechung hält, denn entweder wird es stringent und sachlich oder es wird laissez-faire. Alles kein Problem, ich kenne die ja schon.

 

Einer sagt was … ich frage nach, alle lachen. Das war Ironie von dem einen.

„Haha … achso!“, sage ich. Kennen die schon, kein Problem also. Hätte ich die Ironie erkennen können? Möglich. Manchmal frage ich jemanden leise: „War das Ironie?“

 

Da ich nicht weiß, ob eine Zwischenfrage/Zwischenanmerkung akzeptabel ist, habe ich mir angewöhnt, mich zu melden.

 

Punkte werden abgearbeitet – manche sagen was dazu. Wunderbar lässt sich ablesen, wer mit wem gut kann und wer in seinen Kommentaren akzeptabel ist, wer gemocht wird und wer sich zurückzieht, um ja nichts Falsches zu sagen. Wer ist eher „dominant“ und wer traut sich, mal zu sagen: „Das sehe ich aber anders!“ Manchmal vergreife ich mich im Ton oder wirke zu „streng“, dann kriege ich auch Gegenwind von manchen Seiten – und das ist gut, das trainiert. Wie bleibe ich sachlich bei Gegenwind? Eine tolle Übung. Und bin ich in der Lage, mich für möglicherweise unangebrachte Kommentare zu entschuldigen, ohne beleidigt zu sein?

 

Mit wem kann ich „fighten“ und wer zieht sich zurück? Wie kann ich fair bleiben? Was und wen bewerte ich gut oder schlecht und wie kann ich das ausbessern?

 

 

Unterredungen mit Nicht-Autisten.

Was darf ich fragen, ohne dass es nach Ausfragerei aussieht?

Wie kann ich Small-Talk abwenden, ohne dass ich als unhöflich gelte?

Wo schaue ich hin, damit ich danach nicht mit meinen Energiereserven runter bin, weil ich versucht habe, in die Augen zu schauen?

Wie viel Wahrheit verträgt das Gegenüber?

Habe ich was verpasst? Arbeite ich eventuell zu oft alleine und gelte nun als teamunfähig?

Im Gespräch mit einem Vorgesetzten: Wie „persönlich“ und schelmisch darf ich sein, ohne dass der andere sich in seiner Autorität verletzt fühlt (andererseits: Dein Problem)?

Wie setze ich Person x Grenzen, ohne dass er eine Intrige startet?

 

 

Von mir.

Was darf ich preisgeben, ohne als strange zu gelten? Zählt da eigentlich schon zu, dass ich mich für Napoleon interessiere? Manchmal sag ich: „Das ist ein Grünspecht“, wenn ich ihn krächzen höre. Und dann sagen sie manchmal: Octavia, Du bist seltsam.

Wann darf ich mich ein wenig autistisch „gehen lassen“, ohne dass ich anecke?

Ab wann halten sie mich für inkompetent?

 

 

Ich scanne und analysiere.

Ich scanne Menschen. Sie schauen so und so, ich greife in meine Bilderquelle und lege Schablonen drüber, die das erklären. Sie reden auf eine bestimmte Weise, ich entlarve es als Psychospiel – wie mache ich deutlich, dass ich kein Interesse daran habe? Sie werten jemanden ab, was sagt das über sie selbst? Sie öffnen ihr Inneres vor mir – was löst das in ihnen aus?

Du erzählst mir was und hast anscheinend keine Ahnung, was Du da sagst … denn das, was Du sagst, zeigt mir, dass es Dir sehr schlecht geht.

Du erträgst es nicht, wenn es ruhig ist und musst mich ständig mit irgendetwas zuquasseln, nur, damit es nicht ruhig ist … hast Du eine Ahnung, was das bedeutet? Du willst nichts hören, was dann in Deinem Inneren laut wird. Es muss Teilen in Dir sehr schlecht gehen.

Ständig fühlst Du Dich von etwas angegriffen und verteidigst Deine Position … es muss für Dich eine große Gefahr sein, dass jemand Deine Kompetenz anzweifeln könnte – bist Du denn dann selbst von Dir überzeugt?

Dein Gesicht verändert sich, wenn jemand was hinterfragt. Es wird hart und dunkel.

Deine Stimme verändert sich, wenn Du Angst hast. Ich erkenne sie kaum wieder.

Du fragst mich immer wieder, was Du nun noch machen kannst – ich übernehme das aber nicht für Dich. Ich weiß, dass Dir das nicht passt aber ich unterstütze Dich nicht in Deinem Unerwachsen-Sein.

 

 

„Atmosphären“.

Gruppen-Atmosphären ändern sich plötzlich: Irgendetwas Belastendes hat sich auf die Gruppe gelegt. Andere gehen in eine Angepasstheit, sagen nichts mehr, nicken nur noch ab. Ich sehe es an ihren Gesichtern, an ihren „Einfärbungen“.

Manchmal kommt etwas Feindliches aus anderen – irgendein Blick, den ich kenne. Ich breche dann den Kontakt ab. Andere merken das nicht und gehen in den Kontakt (soviel zur nichtautistischen „Intuition“).

 

 

Small-Talk mit oberflächlichen Kontakten.

Das erfordert eine sehr gesteigerte Denkleistung, da Smalltalk kurzfristig ist und etwas, worin ich nicht geübt bin.

Da steht die Person … sehnsüchtig wartend, lächelnd … mit einem fröhlichen „Hi!“

Und dann geht es los: „Ja, heute ist es noch so aber morgen soll es besser werden!“

Und in mir ist: Waaahhhhh … Hilfe! Was will sie jetzt? Was soll morgen besser werden? Okay … ganz ruhig. Es ist Small-Talk, also wahrscheinlich irgendetwas Oberflächliches.

Ich: „Das Wetter?“

Sie: „Ja, genau … heute ist es ja noch so schwül und morgen ….“

„Ja, genau. Hm hm hm …“

„Blabla … blablubbblliblo …“

„Ha ha … ja, richtig. Genau.“ (Hilfe!)

„Und außerdem … blablabla …“

„Das sehe ich auch so. Aber nun gut …“ (Mal auf die Uhr gucken)

„Ich sag ja immer … sakjsfjgfhakjfhakjhg“

„Hm. Ich verstehe. Richtig.“ (Ist sie gleich fertig? Was muss ich sagen?)

„Und Du so?“

„Ja, wie immer.“

„Man tut, was man kann, ne? Muahahaha“

„Muaahahahaha!“ (wahh, Stress!)

„Tschüss dann, war schön ….“

„Ja, tschüss!“

 

Puuuhhhh ….

 

Es ist in dem Kontext deutlich einfacher, vom selben Planeten zu sein, denn dann ist das, was angeblich diese neurotypische „Intuition“ ist, nichts weiter als das Schließen von sich auf andere (und meistens passt es dann auch, weil sie sich an die Norm richten).

Ich kann das nicht, dabei würden für die Nicht-Autisten die abstrusesten Sachen rauskommen, wenn ich sie wie Autisten behandeln würde.

 

Meine Überlegung ist diese:

 

Du musst eine gewisse Denkleistung erbringen können, um gesellschaftlich akzeptabel zu sein und auch noch beruflich „gut“ etabliert, das heißt: Auf dem 1. Arbeitsmarkt und vielleicht sogar über der Norm des Normalangestellten stehen.

 

Dass daran viele Asperger-Autisten scheitern, wundert mich nicht. Andererseits: Es gibt großartige Systeme und Modelle, die Menschen erklären, sodass ein stückweit dieser Denkleistung runtergeschraubt werden kann.

 

Außerdem kommt hinzu, dass ich noch lieber über menschliche Verhaltensweisen nachdenke als ich Malzbier trinke (und das will was heißen!). Vielleicht brauchst Du auch noch als Spezialinteresse das Fühlen, Denken und Handeln anderer Menschen, sonst gehst Du unter.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Kikkulade (Samstag, 14 September 2019 21:53)

    Sehr verständlich dargestellt. Danke, für diesen Text. <3